Obwohl ich lediglich die berühmte Kurzatmigkeit verspürte, waren einige aus der Gruppe doch stärker betroffen. Starke Kopfschmerzen, Übelkeit und Schlaflosigkeit waren die Symptome, und bei mir auch noch ein fortgesetzter, sich halbstündlich anmeldender heftiger Harndrang. So heftig, dass ich es im Bus auf der Zufahrt zu Lhasa nicht aushalten konnte und - ungesehen von den anderen - in eine leere Wasserflasche urinierte.
Bei jeder Gelegenheit wurden wir darauf hingewiesen, dass Tibet etwas Besonderes ist, in Hinsicht auf den politischen Status, die Religion und die Verfassung der Gesellschaft ganz allgemein. Tatsächlich finden wir in der Hauptstadt Lhasa erstmals nicht die wie Pilze aus dem Boden geschossenen, nadelspitzen Hochhäuser, die ansonsten das Bild der chinesischen Großstadt prägen. Es gibt zwar einige protzige Regierungsbauten, aber der Anteil an Altstadt und historischen Bauten ist doch ziemlich hoch.
Überragt wird Lhasa vom Potala Palast, der bis heute das Zentrum des Lamaismus darstellt. 320m breit und 110m hoch wurde er 1645 auf einen Hügel und in diesen hinein gebaut. Er ist seitdem der Wohnsitz des geistig-politischen Oberhaupts der tibetischen Buddhisten, des Dalai Lama. Nur der letzte, der 14. Dalai Lama, hat seinen Wohnsitz nicht mehr dort, weil er 1959 mit amerikanischer Hilfe und 8000 Getreuen nach Indien flüchtete.
Das Verhältnis zwischen China und Tibet ist kompliziert. Seit 1722 war Tibet chinesische Provinz. Nach der Auflösung des Kaiserreichs 1911, verstand sich Tibet als autonom, ohne dies jedoch bei der UN anzumelden. Als 1950 nach Beendigung des Bürgerkriegs Mao in Tibet einmarschierte, wurde dies von den Tibetern als Okkupation verstanden. Entsprechend heftig war der Widerstand igegen die "Fremdherrschaft". Der Dalai Lama reiste nach Peking und verhandelte mit Mao Ze Dong. Er erhielt von Peking die Zusicherung, dass die Bodenreform in Tibet nicht durchgeführt werden würde. Im Herbst 1959 gab es neuerliche Unruhen in Tibet und der Dalai Lama floh aus Angst vor einer Entführung durch die Chinesen nach Indien.
Tibet ist flächenmäßig die größte Region Chinas. Sie verfügt zwar nicht über nennenswerte Bodenschätze, doch kontrolliert Tibet den Wasserzufluss von ganz Südchina. Was die Chinesen 1950 in Tibet vorfanden, war eine theokratische Sklavenhalter Gesellschaft. Sie wurde beherrscht von der buddhistischen Mönchskaste, deren geistiges und politisches Oberhaupt, der Dalai Lama, gottähnliche Züge hat. Er wird als kleines Kind vom höchsten Priester als Reinkarnation von Buddha ausgewählt und wächst völlig abgeschieden von der Welt im Kloster unter der Anleitung der Mönche auf, bis er seiner geistig-religiösen Bestimmung gerecht werden kann. Der heute 80jährige Dalai Lama erhielt 1988 als Anerkennung seines politischen und religiösen Wirkens den Friedensnobelpreis.
Im Westen bringen wir dem Dalai Lama viel Sympathie entgegen. Aus chinesischer Sicht ist er der Anführer einer Priesterkaste, die das Volk bereits seit Hunderten von Jahren ausbeutet und niederhält. Erst seit Einzug der Chinesen 1950 gibt es Schulen für alle, Straßen und Hospitäler. Damals waren 94% der Tibeter Analphabeten. Die Armut war unbeschreiblich.
Dies ist die Kehrseite der tiefen Religiösität des tibetischen Volkes. Alles wird für die Religion geopfert. Die Menschen leben mehr in der Orientierung auf das "Jenseits" und kümmern sich nicht um das "Diesseits ". Die buddhistischen Mönche, die Lamas, leben nicht schlecht von dieser tiefen Gläubigkeit. Ich habe selbst gesehen, wie selbst die ärmsten Menschen beim Besuch des Potala Palastes oder des Jokhang Tempels unentwegt mit kleinen Geldscheinen um sich warfen. "Kleinvieh macht auch Mist". Wie sonst ist es zu erklären, dass beim Bau der Grabstupa eines Dalai Lamas mehr als 3 Tonnen Gold verbaut wurden.
Die chinesische Regierung versucht, mit viel Entwicklungshilfe die tibetische Bevölkerung für sich einzunehmen. Unser Reiseführer Lee erzählt mit sichtlicher Empörung, dass nirgendwo in China die Gehälter der Beamten so hoch sind wie in Tibet bei gleichzeitiger maximaler Korruption. Der jetzige starke Mann Chinas Xi Jinping hat sich bei seiner Kampagne gegen Korruption in Tibet bemerkenswert zurückgehalten.
Zurück zu unseren Reiseerlebnissen. Die Besichtigungen des Potala Palastes, des Sommerpalastes, des Jokhang Tempels und vom Kloster Sera waren eindrucksvoll. Doch blieb ich dieser Form der Religion gegenüber zwiespältig. Auch gibt es kein Volk der Erde, welches so ausdrucksstark lächeln kann, wie die Tibeter. Gleichzeitig kann ich den Schmutz, den man überall vorfindet, nicht übersehen.
Überrascht war ich davon, wie stark der muslimische Bevölkerungsanteil in Lhasa war. Unser Hotel lag ganz nah an der Moschee, und die Gesichter der Menschen, denen ich dort begegnete, blickten gar nicht freundlich. Ist es meiner gestiegenen Ablehnung von Muslimen geschuldet oder sind es diese selber, welche Abweisung gegenüber westlichen Touristen zur Schau tragen?
Unser Hotel, obwohl nahe der Altstadt gelegen, bot eine Oase der Ruhe und Sauberkeit. Drei Nächte durften wir dort unter fürstlichen Bedingungen leben. Das St. Regis Hotel gehört zur Starwood Kette, zu der auch Sheraton gehört. Alles vom Feinsten. Das Zimmer war eine Suite, das Hotel mit echter Kunst ausgestattet, das Personal 5Sterne freundlich und das Frühstück war ein Gedicht.
Nun sitze ich schon seit 28 Stunden im Zug, der uns von Lhasa über eine Strecke von 2864km nach Xian bringt. Der höchste Punkt der Reise führte über 5072m, und überall im Zug gibt es Sauerstoff Flaschen. Es gibt herrliche Landschaften entlang der Zugstrecke. Leider sind die Fenster dreckig, so dass die Fotos nicht ganz so gut geworden sind.
Die Nacht habe ich zusammen mit dem Reiseführer Lee im Softsleeper verbracht. Eigentlich für vier Personen gedacht hatten wir das Abteil für uns. Das war gemütlich. Nicht so gemütlich war die eisige Temperatur. Erst um zwei Uhr in der Nacht wurde der Fehler gefunden und es wurde endlich warm im Abteil.
Mittlerweile fahren wir im Tal des Gelben Flusses. Noch 4 Stunden bis Xian. Ich freue mich auf das Hotelbett und eine Dusche.
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